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Marodes und Ruinen

Dieter F.Grins
„Swiderski Dokumentation“


Botschaften
Gertrud Grins
Wir schauen auf eine Ruine gegenüber der Straßenbahn-Haltestelle Leipzig-Plagwitz, Zschochersche Straße. Da waren einmal Star-Architekten am Werk, das verrieten uns die kläglichen Reste der im Tudorstil errichteten Gebäude eines ehemals stolzen Industrieunternehmens.
Mit uns wartet eine Einheimische – so unsere Einschätzung – auf die Linie 3.
Ich spreche sie an, frage, was für ein Industrie-Betrieb das einmal gewesen ist.
„Ich habe da gearbeitet, wir haben Druckereimaschinen hergestellt, aber das ist jetzt 35 Jahre her“, war die Antwort. „Ursprünglich war es die Maschinenfabrik Swiderski. Die Gebäude wurden 1888 errichtet. 1990 wurde der Betrieb abgewickelt. Was noch steht, ist nur ein Bruchteil dessen, was die Gründergeneration geschaffen hatte. Voriges Jahr (2022) hat ein Großbrand darin gewütet, die Dachkonstruktion und die Innenräume wurden noch weiter zerstört.“ So erfahren wir.
Neugierig betraten wir am nächsten Tag das verwilderte Gelände. Nichts und niemand hielten uns auf, die Gebäude zu umrunden und – noch erstaunlicher – sie zu betreten. Es war ein lost Place, ein wahrlich verlassener Ort, den sich die Natur seit 30 Jahren mehr und mehr zurückerobert hatte. Aber nicht nur die Natur war unermüdlich am Werke, es waren auch Menschen, die diese verwaisten Fabrikhallen für sich entdeckt und in Besitz genommen hatten. Vorsichtig traten wir ein, schauten uns um an diesem geheimnisvollen Ort, an dem sich Menschen bis vor kurzem noch getroffen, in dem sie gefeiert, gekocht, geschlafen, wahrscheinlich sogar zeitweise gewohnt hatten. Zeugnisse ihres Daseins waren überall verstreut – verkohlt, vermüllt. Hier konnten Obdachlose Unterschlupf finden und die Angehörigen der Generationen X und Y von Selbstverwirklichung träumen. Um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, haben sie Graffitis gestaltet, wohlwissend, dass sie vergänglich sind. Sie besprühten Säulen, Treppen, Decken und Wände wild wütend mit ihren Botschaften. Übersprühten Vorhandenes rigoros. Bei genauerem Hinsehen entdeckte ich humorvolle, beglückende, besorgte Hinweise auf ihr Leben. Neben Stümpern und Chaoten waren eindeutig auch Künstler tätig: formsicher, inspiriert, engagiert, weltoffen, international beheimatet.
Der Sog der Farben und Formen, die Verschmelzung mit der Natur, ließen mich die Zeit vergessen.
Stunden verbrachten mein Mann Dieter und ich in dem seit 30 Jahren dem Verfall hingegebenen Gebäudekomplex. Wir suchten ganz unabhängig voneinander zu erfassen, was uns da geboten wurde,  um es im Foto festzuhalten. Erschöpft brachen wir nach einigen Stunden den Rundgang ab. Am nächsten Morgen kamen wir wieder. Hier war noch so viel mehr zu entdecken. Fasziniert schauten wir auf verbrannte Bücher, verdreckte Plastikfolien, auf Kinderspielzeug und Kochgeschirr. Überall lagen leere Farb-Kartuschen herum, zersplittertes Glas neben nassen Schlafsäcken.
Es war ein verlassener Ort, verfallen, aber er atmete Jugend und eine hoffnungsvolle Zukunft aus.
In Leipzig wird gemunkelt, dass die heutigen Eigentümer mit dem Totalabriss warten würden, bis die Denkmalschutzauflagen sich von selbst erledigt hätten. Aus der ehemaligen Maschinenfabrik Swiderski wurde demnach ein Spekulationsobjekt. Im September 2023 konnten wir diesen LOST PLACE, ein Zeitzeugnis, erkunden und dokumentieren.
https://www.fotoforum.de/community/album/industriemusen
Kategorie: Architektur
Rubrik: Marodes und Ruinen
Hochgeladen: 07.02.2024
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Kamera: Canon EOS R
Objektiv: Canon RF 24-105mm F4
Blende: f/5.6
Brennweite: 45 mm
Belichtung: 1/160 sec
ISO: 200
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Kommentare zum Bild

Lothar Mantel
07.02.2024

Die Sofaecke und der Drehstuhl sind so platziert, dass sie quasi wie ein Pfeil in die Bildmitte weisen, wo die Farbigkeit das morbide Gebäude belebt. Ein gut gestaltetes Detail dieses Unikums, dessen Zukunft, wie wir dank der Geschichte wissen, völlig ungewiss ist.

BG Lothar

Jürgen Grandeit
07.02.2024

Hallo Dieter,
Bild und Text ergeben hier eine Symbiose vom Feinsten.
LG
Jürgen

PeSaBi
07.02.2024

Die Bilder dieses Lost-Places waren/sind faszinierend und erschreckend zugleich ... jedenfalls hast Du eine wunderbare fotografische Serie erschaffen und Deine Frau hat es ganz wunderbar in Worte gefaßt !
HG - Petra

Anne UD
07.02.2024

Danke, Gertrud, für diesen Bericht! Sehr gut verstehe ich euch, wäre zu 100% mitgekommen. Die vollen Stunden. Den Tag danach vielleicht nicht mehr. Es ist anstrengend, chaotische Zustände anzuschauen und sie nicht ändern zu können. Genauer: den Menschen nicht helfen zu können, diese zu verlassen. Durch die Hallen gestreift zu sein, wird euch noch eine Zeitlang begleitet haben. Das muss abgeschüttelt werden. Vieles kam einem so in den Sinn beim Umherschauen!
Die Summe der Kommentare zeigt dass bei Anerkennung der fotografierten Äußerungen an Vielfalt und Farbe, bei Empathie für und Mitgefühl mit gedachte/n Geschichten (Kinderspielzeug?!) doch auch... man kann schon sagen Nihilistisches, Sinnloses, Zerstörerisches wahrgenommen und empfunden wird, dem man Grenze setzen möchte.
Trotzdem haben die Fotos etwas wie eine Anziehungskraft.
Jedes Foto ist mit Bedacht und Sorgfalt, Erfahrung aufgenommen.
Liebe Grüße und danke für die wertvollen Notizen, Gertrud.
Anne

brimula
08.02.2024

So hat alles eine Geschichte...die Sofaecke....da könnte man ein wenig sitzen und schauen und sinnieren...

gruss Brigitta